„Global Sourcing“ – mehr Schaden als Nutzen?

Was nun passieren muss, um im Wettbewerb des globalen Liefernetzwerks nicht als Verlierer dazustehen.

Prof. Dr. Dirk Hecht als Porträtbild

Prof. Dr. Dirk Hecht ist Studienfachberater und Studiengangleiter des Masters „Technisches Beschaffungsmanagement“ an der THI. (Foto:THI)

Selten war das Beschaffungsmanagement so prominent in der Öffentlichkeit wie in den vergangenen zwei Jahren. Eine Versorgungskrise jagt die nächste. Die Halbleiterkrise führt unter anderem zu empfindlichen Einbrüchen der deutschen Automobilindustrie, Fahrzeuge werden auf Halde gebaut und - soweit möglich - später mit Chips ausgerüstet oder vollständig aus dem Produktionsprogramm gestrichen. Kunden warten über ein Jahr auf ein Neufahrzeug, vor allem betroffen sind Elektrofahrzeuge.

VW-Chef Herbert Diess sprach in einer Telefonkonferenz Ende Oktober von rund 600.000 Autos, die wegen der fehlenden Halbleiter nicht gebaut werden konnten. Der Einfluss auf das BIP, Steueraufkommen und Beschäftigung sind verehrend. „Wie so oft ist keiner verantwortlich und viele sind überrascht“, sagt Dirk Hecht, Professor für Beschaffungsmanagement an der Technischen Hochschule Ingolstadt (THI).

Ist das alles auf Corona zurückzuführen?

Der Einkauf, genauer das strategische Beschaffungsmanagement, soll die globale, bedarfsgerechte und wirtschaftliche Versorgung mit Waren für ein Unternehmen sicherstellen. Die Bedeutung dieser Funktion werde deutlich, wenn man bedenkt, dass in einigen Konzernen bis zu 70 Prozent des Umsatzwerts von der Beschaffung verantwortet wird (im Schnitt laut BME in den Jahren 2020 und 2021 in etwa 50%), so Prof. Dr. Dirk Hecht.

Viele Unternehmen haben die Rolle der Beschaffung erkannt und die Verantwortung bis auf Geschäftsführungsebene beziehungsweise Vorstand gehoben (zum Beispiel BMW, Audi oder Airbus). Studien zeigen, dass etwa 60 Prozent der Wertschöpfung in das globale Lieferantennetzwerk also ins Ausland verlagert wird.

Prof. Dr. Dirk Hecht erklärt: „Vor dem Hintergrund der Öffnung der Märkte in Osteuropa und der sich entwickelnden Globalisierung zu Beginn der 1990er Jahre nahm die Bedeutung von Global Sourcing ständig zu. Dominierten zunächst ausschließlich Aspekte zur Kostensenkung die Beschaffung, ist im Zeitverlauf zu erkennen, dass der Auf- und Ausbau globaler Supply Chains die Ausrichtung der Unternehmen für bestimmte Beschaffungsmärkte determinieren. In der Folge wird Global Sourcing nicht mehr ausschließlich für die Beschaffung in Niedriglohnländern verstanden, vielmehr gilt dieses Konzept als strategischer Ansatz zur Entwicklung eines Unternehmens. Unter dem Begriff „Global Sourcing“ kann also die Kombination von strategischer Ausrichtung und internationaler Betrachtungsweise verstanden werden. Dazu gehören unter anderem die strukturierte Analyse und Bewertung weltweiter Beschaffungsmärkte, das rechtzeitige Erkennen von neuen Beschaffungsquellen, der strukturierte Aufbau neuer internationaler Lieferanten, die systematische Kostenanalyse und das präventive Risikomanagement.“

Leider würden diese Ansätze nicht flächendeckend verfolgt und die Globalisierung auf „Hauptsache billig in China eingekauft“ reduziert: „Bereits ab 2009 mussten deutsche Firmen erfahren, was passiert, wenn man die eigenen Lieferketten nicht kontrolliert und ein Land uns eine Lehrstunde im Verdrängungswettbewerb erteilt. China hat sich zunächst mit Hilfe von Dumping Angeboten über Nacht ein Monopol in der Gewinnung der seltenen Erden erarbeitet. Die Preise der für Hochleistungsmagneten benötigen selten Erden Neodym und Dysprosium verdreißigfachten(!) sich im Zeitraum 2009 bis 2011. Deutsche Unternehmen sahen sich gezwungen, in Vorkasse zu gehen, um überhaupt noch Lieferungen zu erhalten.“

Eine höchst gefährliche Situation

China verfolgt stringent mit Fünf-Jahresplänen Kerntechnologien und setzt diese auch äußerst effizient um. Der Markt der Halbleiter und Leiterplatten wird von China beherrscht. Der seit 2020 anhaltende Mangel im Hableitersektor war eigentlich absehbar, wurde durch COVID zwar katalysiert aber nicht unbedingt ausschließlich durch das Virus verursacht, ist sich Prof. Dr. Dirk Hecht sicher. 

Und der nächste Engpass zeichnet sich ab: Magnesium

Mit einem Anteil von 87 Prozent an der Produktion hat China ein nahezu vollständiges Monopol auf die weltweite Magnesiumproduktion. Etwa 45 Prozent aller chinesischen Ausfuhren sind für Europa bestimmt. Deutschland und Europa sind auch deshalb besonders stark von den Lieferengpässen betroffen, da im Jahr 2001 die verbliebene Magnesiumproduktion als Folge von gedumpten chinesischen Einfuhren aufgegeben wurde. „Die Folge ist, dass die chinesischen Ausfuhren heute 95 Prozent des Magnesiumbedarfs in Europa decken und damit eine fast vollständige Abhängigkeit besteht“, sagt der Experte. Magnesium steht seit 2017 auf der Liste der kritischen Rohstoffe der EU. Die Europäische Kommission hat dies in ihrer Mitteilung zur „Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen: Einen Pfad hin zu größerer Sicherheit und Nachhaltigkeit abstecken“ im September 2020 nochmals bekräftigt. Politisch-strategische Überlegungen und Maßnahmen zur Sicherstellung des Lieferflusses blieben bislang jedoch aus. Die starke Verknappung von Magnesium führt bereits zu Rekordpreisen, erzeugt weltweite Verzerrungen am Markt und kündigt enorme Störungen in der Lieferkette an.

Gleichzeitig müssen deutsche Firmen sich auf das neue Lieferkettengesetz ab 2023 (genauer: Das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten) vorbereiten. Dieses verlangt von Beschaffern, die Elemente der Nachhaltigkeit der bekannten Tripel Bottom Line aus Ökonomie, Sozialem und Ökologie in der Lieferkette zu verantworten. Sollte es zu Menschenrechtsverletzungen in einer Lieferstufe kommen, so kann zum Beispiel ein deutscher OEM zur Verantwortung gezogen werden, erklärt der THI-Professor. Es handelt sich um eine Herkulesaufgabe, da nur wenige der zunächst betroffenen Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeiter aktuell eine umfassende Transparenz der komplexen Lieferketten darstellen können. Die Strafen können dabei durchaus empfindlich werden, es werden Werte von 0,35 bis 2 Prozent vom Umsatz (nicht Gewinn!) diskutiert. Ob Deutschland trotz des sicherlich gut gemeinten Vorstoßes nicht über das Ziel hinausschießt und den deutschen Unternehmen einen deutlichen Wettbewerbsnachteil beschert, bleibt abzuwarten.

Was konkret gilt es also zu tun?

„Wir brauchen mehr Strategen“, so Prof. Dr. Günter Hofbauer, Professor der THI für strategische Beschaffung, im Hinblick auf die aktuellen Probleme. Die Entscheider müssen lernen, in komplexen Szenarien zu denken und zielsicher den optimalen Handlungspfad zu identifizieren. Eindimensionales Denken und lineare Extrapolation sind in einer VUKA Welt längst überholt, vielmehr muss in mehrdimensionalen Entscheidungsräumen geplant werden und dabei ist die Antizipationsfähigkeit die wichtigste Managementkompetenz. Das neue Schlagwort Resilienz beschreibt die Widerstandskraft einer Lieferkette sich externen Störfaktoren zu widersetzen, beziehungsweise sich neu ausrichten zu können. „Wenn wir diese Resilienz im globalen Umfeld nicht beherrschen und die Versorgung mit Rohmaterialen und Vorprodukten nicht mehr sicherstellen können, laufen Beschaffungsorganisationen Gefahr, den Wirtschaftsmotor der EU ins Stocken zu bringen“, sagt Dr. Bernd Martens, langjähriger Beschaffungsvorstand der Audi AG.

Neue Technologien wie RPA, Blockchain oder Digital Twins können eine Erleichterung schaffen, aber vor der Digitalisierung müssen die Strategie und den Prozess angepasst werden.

Die Funktion des Beschaffers ist hochgradig professionalisiert. Analog der Voraussetzungen für Entwicklungs- und Produktionsabteilungen ist eine stringente Ausbildung für die Einkäufer der Zukunft zwingen erforderlich. Hochschulen wie die TH Ingolstadt gehen hierbei mit dezidierten Master- und Bachelorprogrammen im süddeutschen Raum voran.

„Das Sourcing auf globalen Märkten muss neu ausgerichtet und um wesentliche Entscheidungskriterien erweitert werden“, sagt Dr. Bernd Martens. So reichen die aktuellen Kriterien, die sich maßgeblich nach den Kosten richten nicht mehr aus. Die ESG Kriterien, so wie sie zum Beispiel in den Nachhaltigkeitsanforderungen in der automobilen Lieferkette und im VDA-Auditprogramm niedergelegt sind, müssen lückenlos erfüllt werden. Die CO2-Emissionen in der Lieferkette müssen berücksichtigt und mit einem CO2-Preis pro Tonne in die Total Cost of Ownership Betrachtung miteinbezogen werden. Nur so kann der CO2-Footprint systematisch gesenkt werden. Dabei müssen auch neue Verfahren zur umweltschonenderen Herstellung von Rohmaterialien gefördert und implementiert werden.

Jedes Unternehmen muss ein Screening hinsichtlich des Risikos einer Versorgungsunterbrechung bei den von ihnen benötigten Materialien und Baugruppen durchführen und die Risiken auch benennen. Gerade bei Risiken aus Monopolen, oder aus Abhängigkeit von bestimmten Regionen ist die Schaffung weiterer Quellen unabdingbar, auch wenn dies zu kurzfristiger Erhöhung der Einkaufspreise führt. „Das aktuelle Beispiel der Versorgungsengpässe und Rekordpreise beim Magnesium oder auch vor ein paar Jahren bei den seltenen Erden zeigen wie die bisherige Vorgehensweise in eine Sackgasse führt“, führt Dr. Bernd Martens aus. Die strategische Beschaffung bekomme dabei einen neuen Stellenwert; sie werde zum Visionär für die zukünftigen, nachhaltigen und robusten Lieferketten.

Auch die Vernachlässigung der deutschen und europäischen Industriepolitik in die Produktion von notwendigen Rohmaterialien und Kerntechnologien wie zum Beispiel Batterien, Halbleiter und Telekommunikation zu investieren, hat eine bedenkliche Abhängigkeit von anderen geschaffen, sind sich die Experten sicher. Gemeinsam mit den Industrieverbänden, den Unternehmen und den Wirtschaftsministern der europäischen Länder unter Koordination der europäischen Kommission ist ein Executive Plan zu erarbeiten, der die erneute Verfügbarkeit der Critical Raw Materials (CRM) gewährleistet (siehe auch: Study on the EU's list of Critical Raw Materials 2020) und die Investitionen auf die notwendigen Kerntechnologien lenkt.

Dr. Bernd Martens, Prof. Dr. Dirk Hecht