Zum Schutz der schwächsten Verkehrsteilnehmer – Sicheres Automatisiertes Fahren mit Künstlicher Intelligenz

Forschungs- und Testzentrum CARISSMA der Technischen Hochschule Ingolstadt stellt aktuelle Projekte zum Fußgängerschutz und die Testanlagen der Zukunft vor

Von links: Prof. Dr. Thomas Brandmeier (Wissenschaftlicher Leiter des Forschungs- und Testzentrums CARISSMA der THI), Bernd Sibler (Bayerischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst) und Robert Lugner (Wissenschaftlich-Technische Leitung des Forschungs- und Testzentrums CARISSMA der THI). Quelle: THI

Wer schon einmal scharf bremsen musste, weil ein spielendes Kind plötzlich auf die Straße gelaufen ist, der weiß, welch hohes Risiko eine verzögerte Reaktion bergen kann. Automatisierte Fahrzeuge erkennen gefährliche Situationen schneller und zuverlässiger als der Fahrer und reagieren rechtzeitig durch Bremsen oder Lenken. Das Forschungs- und Testzentrum CARISSMA der Technischen Hochschule Ingolstadt (THI) arbeitet daran, mithilfe Künstlicher Intelligenz kritische Verkehrssituationen zu erkennen und geeignete Maßnahmen einzuleiten.

Schutz von Fußgängern: Vorausschauende Gefahrenerkennung (Pre-Crash)

Eine besondere Berücksichtigung erfährt in der Forschung von CARISSMA der Schutz der Schwächsten, die sogenannten ungeschützten Verkehrsteilnehmer (Vulnerable Road User, VRU). So ermitteln die Wissenschaftler mit Einsatz von Künstlicher Intelligenz die Bewegungsintentionen von Fußgängern, damit automatisierte Fahrzeuge in kritischen Situationen schnell reagieren können. Damit sollen Unfälle vermieden oder die Unfallfolgen für die Beteiligten minimiert werden.

Mit eigens entwickelten Fußgänger-Dummys testen die Wissenschaftler kritische Verkehrssituationen unter reproduzierbaren Bedingungen. Dadurch kann Künstliche Intelligenz wiederum trainiert werden. Das realitätsgetreue Verhalten eines Dummys hinsichtlich Bewegung und sensoriellen Reflexionsverhaltens ist für die korrekte Interpretation kritischer Situationen und der Bewegungsprädiktion von elementarer Bedeutung. So entwickelten die Wissenschaftler in CARISSMA eine Dummy-Familie mit künstlichen Muskeln, die vollständig auf den Einsatz von metallischen Komponenten verzichtet und damit im Hinblick auf das Radar-Reflexionsverhalten dem eines echten Menschen entspricht.

Bei dem neu entwickelten Kinder-Dummy steht die Implementierung des realen kindlichen Bewegungsverhaltens im Vordergrund. Für den analog zum Erwachsenen-Dummy aufgebauten Kinder-Dummy analysierten und adaptierten sie das Bewegungsverhalten von Kindern: Mit speziellen Bewegungserfassungs-Sensoren (Engl.: Motion Capture Sensors), die während des Gehens an den Körpern der Kinder angebracht wurden, untersuchten sie das Bewegungsverhalten und schufen so eine Referenz für den Kinder-Dummy. So konnten sie ein kinderähnliches Bewegungsverhalten auf den Dummy übertragen. Der Kinder-Dummy erlaubt das Verhalten der Kinder in kritischen Situationen nachzustellen und für die Sicherheitssysteme berechenbar zu machen. So tragen intelligente Fahrzeuge dazu bei, dass sich Kinder im zukünftigen Straßenverkehr sicher bewegen – für uns alle ein gutes Gefühl.

Testverfahren mit authentischen Witterungsbedingungen

Ein besonderes Anliegen von CARISSMA ist es, dass diese Schutzsysteme zuverlässig und möglichst schnell in allen Fahrzeugen verfügbar sind und so viele Leben retten. Hierfür werden in der CARISSMA-Indoor-Versuchshalle für automatisierte Fahrversuche (100 m x 30 m) auf dem Campus der THI einzigartige Versuchsbedingungen geschaffen, die kritischen Situationen in der Realität sehr nahekommen. So wurde von den Wissenschaftlern eine Wetteranlage entwickelt, die es ermöglicht, realitätsgetreuen Nebel und Regen zu erzeugen und damit reproduzierbare Sensor- und Systemtests durchführen zu können – auch in Kombination mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen. Dazu haben die Forscher in der Natur vorkommenden Nebel und Regen vermessen und mit den exakt gleichen Charakteristika (Tröpfchengröße, -dichte, -verteilung etc.) nachgebildet. So können bei den Indoor-Fahrversuchen mit Fußgängern authentische Witterungsbedingungen beliebig oft nachgestellt werden.

Einsatz Künstlicher Intelligenz in sicherheitskritischen Anwendungen

Ebenso wie der Mensch lernen automatisierte Fahrzeuge und Testsysteme, mit Hilfe künstlicher Intelligenz kritische Situationen zu erkennen und unfallvermeidende Maßnahmen einzuleiten. CARISSMA forscht gemeinsam mit dem Kompetenzzentrum für Künstliche Intelligenz AININ mit Sitz an der THI an neuartigen Algorithmen und Methoden für die effiziente Implementierung und Nachvollziehbarkeit selbstlernender Systeme. Der Entwurf und die Validierung von sicheren maschinellen Lernverfahren sind eine Voraussetzung für den Einsatz Künstlicher Intelligenz in sicherheitskritischen Anwendungen, wie dem autonomen Fahren.

 

Über CARISSMA

Das Forschungs- und Testzentrum CARISSMA der THI wird als wissenschaftliches Leitzentrum für Fahrzeugsicherheit in Deutschland etabliert. CARISSMA steht für Center of Automotive Research on Integrated Safety Systems and Measurement Area. Ziel der Einrichtung ist es, über angewandte Forschung einen Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit im In- und Ausland zu leisten. Hierbei arbeitet CARISSMA mit Automobilherstellern, Wissenschaftlern und Forschungseinrichtungen aus aller Welt zusammen. Die interdisziplinär arbeitenden Wissenschaftler stellen sich mit ihren Forschungsprojekten fächerübergreifend der gesellschaftlichen Herausforderung „Vision Zero“ – dem Fernziel von null Verkehrstoten.

CARISSMA hat 2016 seinen Betrieb aufgenommen und ist ein Novum in der deutschen Wissenschaftslandschaft: Es ist bundesweit der erste Forschungsbau an einer Fachhochschule. Er verfügt über zehn hochmoderne Versuchsanlagen: eine Indoor-Testanlage für Crash- und ADAS-Versuche, ein Outdoor-Testgelände für integrale Sicherheitssysteme, ein Batterielabor, ein Car2X-Labor, ein HiL-Labor, ein Simulationslabor, einen Fahrsimulator mit Bewegungsplattform, einen Fallturm sowie Anlagen für Abuse-Versuche von Batterien und Mobile Roboter. Insgesamt umfasst CARISSMA 13 Professoren mit 85 Mitarbeitern und ein Projektvolumen von über 6 M-€ p.a.

Über die Technische Hochschule Ingolstadt (THI)

Die Technische Hochschule Ingolstadt (THI) ist eine der forschungsstärksten Fachhochschulen in Deutschland. Mit einem Forschungsvolumen von jährlich 15 Mio. Euro investiert sie rund ein Drittel des Gesamtbudgets in die angewandte Forschung. In diesem Bereich sind rund 60 stark forschungsaktive Professoren und 150 wissenschaftliche Mitarbeiter angesiedelt. Die 6.000 Studierenden der THI werden in 60 Studiengängen in den Bereichen Technik und Wirtschaft praxisnah ausgebildet. Gemäß dem Selbstverständnis der THI als Mobilitätshochschule ist ein Drittel der Studiengänge auf die Themen Automotive und Luftfahrt zugeschnitten. Ein besonderer Fokus der THI liegt auf den zentralen Querschnittsthemen Digitalisierung, Internationalisierung, Unternehmertum und Nachhaltigkeit.